Monatsgruß Februar 2023

„Denn ihr habt allezeit Arme bei euch“

Liebe Kolleginnen und Kollegen,

das Zitat aus dem Matthäus-Evangelium provoziert mich seit langem. Viele Menschen sind in diesem Winter mit harten Einschränkungen konfrontiert. Die enorme Teuerung von Lebensmitteln, Energie und Gebrauchsgegenständen werden besonders für die im Alltag spürbar, die auch vor der Krise schon wenig hatten. Und als wenn es nicht schon genug wäre, mit wenig zurechtzukommen, sehen sich Armutsbetroffene häufig auch noch dem Misstrauen ausgeliefert, sie seien selbst für ihre Lage verantwortlich oder täten nicht genug, um finanziell wieder auf die Beine zu kommen.

Vielen Armutsbetroffenen gelingt es, ihre Situation nach außen so zu verschleiern, dass ihre Bedürftigkeit nicht für alle sichtbar wird. Zugleich ist Armut oft genug sichtbar, an der Kleidung, an den Zähnen, an der Einkaufstüte. Sind Armutsbetroffen arm genug, um noch mehr Sozialleistungen zu erhalten? Ein Artikel der Januar-Aufgabe von zeitzeichen regt an, eine Aufklärungskampagne zu starten, in der die Lebensumstände Armutsbetroffener realistisch dargestellt werden.

Denn ihr habt allezeit Arme bei euch – Der Satz aus dem Matthäus-Evangelium (26,11) zeigt eine Grundspannung auf: Während Armut ein Grundphänomen in der Menschheitsgeschichte ist, beschreibt die Bibel sie zugleich als einen Tatbestand, den es zu überwinden gilt. Biblisch betrachtet beschreibt Armut kein individuelles Problem, das es für Einzelne zu lösen gilt, sondern eine gesellschaftliche Herausforderung, die alle angeht.

Wie gehen Schulen mit dieser Herausforderung um? Wie gehe ich als Lehrerin mit Kindern um, die armutsbetroffen sind? Welche Rolle spielt die Frage nach auskömmlichen Leben in einem Religionsunterricht, der an den Fragen und an der Lebenssituation von Schüler:innen orientiert sein will und soll? Richten sich die Angebote vornehmlich an Schüler:innen, die Zugang zu Bildung und Teilhabe an kulturellen Angeboten haben? Gelingt es, die unterschiedlichen Lebensbedingungen, mit denen unsere Schüler:innen zurechtkommen müssen, in einer Weise im Unterricht zugänglich zu machen, dass es nicht zu weiteren Erfahrungen von Ausgrenzung kommt?

Jesus setzt die Bemerkung über die Armen, die allezeit unter uns leben, in Kontext zu seiner eigenen Person. „Denn ihr habt allezeit Arme bei euch, mich aber habt ihr nicht allezeit.“ Der Evangelist Matthäus setzt die Person Jesus in Bezug zum Handeln der Frau, die ihn schon vor seinem Tod mit kostbarem Salböl übergießt und ihn auf die Bestattung vorbereitet. Matthäus skandalisiert die Tat der Frau, denn er kann davon ausgehen, dass seine Leser:innenschaft von der alten rabbinischen Tradition weiß, die den Verkauf von Luxusgütern anordnet, um für die Armen zu sorgen. Zugleich gibt er der beschriebenen Ausnahme einen existentiellen Sinn: diese Frau bezeugt mit ihrer scheinbar die Armut der vielen aus dem Blick verlierenden Tat, dass Jesus der Messias ist. Sein Leben und seine Botschaft öffnen einen neuen Blick: Gesellschaftliche Teilhabe und Beteiligung aller Menschen muss nach christlicher Vorstellung ermöglicht werden, weil Jesus für alle Gottes Zuwendung und Gottes unbedingtes Ja spürbar und sichtbar gemacht hat, weil seine Worte weit über seinen Tod hinaus darauf aufmerksam machen, dass wir Strukturen brauchen, die allen gesellschaftliche Teilhabe ermöglichen.

Für mich enthält das Zitat aus dem Matthäus-Evangelium eine doppelte Provokation. Es fordert mich heraus, den Verweis auf die Armen unter uns weder als Einladung zum Wegsehen noch als Beschwichtigung zu lesen. Es geht darum, die Not der einen als Aufgabe für die Gemeinschaft wahrzunehmen. Zugleich stellt es mich als Christin vor die schier unlösbare Aufgabe, Ungleichheit und Armutsbetroffenheit zur Sprache und in den gesellschaftlichen Diskurs zu bringen und unterschiedliche Perspektiven zu betrachten, ohne diese zu hierarchisieren oder zu bewerten.

Ich wünsche Ihnen Interesse und Mut, mit Ihren Kolleg:innen darüber ins Gespräch zu kommen, wie Ungleichheit wahrgenommen und aufgenommen werden kann. Und ich freue mich, wenn Sie gelungene Beispiele mit anderen teilen können und wollen. Schreiben Sie mir gerne Ihre Erfahrung oder Ihren Gedanken. Ich werde mich bemühen, sie in geeigneter Form zugänglich zu machen.

Im Namen des Teams des Ev. Schulreferats Duisburg/Niederrhein

grüßt Sie sehr herzlich

Ihre Annette Vetter